Suizid auf Schienen
Es sind Hundertstelsekunden, die das Leben nachhaltig verändern. TriebfahrzeugführerInnen – aber auch andere Beschäftigte bei Schienenverkehrsunternehmen – müssen damit rechnen, dass sich während ihrer Schicht ein verzweifelter Mensch das Leben nimmt. Sie sind mit „Suizid auf Schienen“ konfrontiert.
„Plötzlich befand sich eine Person im Gleisbett. Ich habe die Bremse gezogen und das Warnsignal eingeschaltet. Es war zu spät …
Ich hörte einen Knall und gefühlte Hundertstelsekunden später bin ich zum Stehen gekommen …“
Triebfahrzeugführer M.
Nach so einem traumatischen Erlebnis verfällt der oder die Betroffene in einen Schockzustand. Wie sich dieser äußert, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Eingeschränkte Aufmerksamkeit, völliger Rückzug, Angst, Verzweiflung, Erstarrung, Fehlersuche bei sich selbst, Unruhe, Ärger und Depressionen können auftreten. Während man selbst vielleicht eine innerliche Gefühlslosigkeit wahrnimmt, wirkt man nach außen normal, sachlich oder auch locker. Ob daher eine sogenannte akute Belastungsstörung vorliegt, ist weder für die Betroffenen noch für Außenstehende sofort abschätzbar.
ArbeitnehmerInnenschutzgesetz
Im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz, kurz ASchG, steht, dass ArbeitnehmerInnen vor arbeitsbedingten Gefahren zu schützen sind. Traumatische Erlebnisse – wie Unfälle mit Personenschaden – sind eine typische Gefahr für TriebfahrzeugführerInnen und andere Berufsgruppen, wie VerschieberInnen, ZugbegleiterInnen, Baudienst- oder FahrdienstleiterInnen. Laut ASchG dürfen ArbeitnehmerInnen keine Tätigkeiten verrichten, wenn sie (durch ihre gesundheitliche Verfassung) sich selbst oder andere gefährden. Eine akute Belastungsreaktion ist eine normale menschliche Reaktion auf ein abnormales, traumatisches Erlebnis. Betroffene sind schuldlos und können nicht vorhersehen, welche Symptome danach auftreten. Laut internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) können die Symptome einer akuten Belastungsreaktion bis zu drei Tage lang anhalten. Gewerkschaft und Betriebsrat halten es daher für unzulässig, dass betroffene KollegInnen in dieser Zeit, also innerhalb von 72 Stunden nach dem Vorfall, ihren Dienst verrichten.
Rasche Hilfe im Krisenfall
Bei den ÖBB hat sich die Belegschaftsvertretung für eine Krisenintervention starkgemacht und gemeinsam mit dem Unternehmen ein System erarbeitet. Seit 1997 gibt es ein Laienhelfersystem zur psychosozialen Betreuung von MitarbeiterInnen, die durch außergewöhnliche Ereignisse oder deren Folgen traumatisiert wurden. Diese nicht extra entlohnte Aufgabe übernehmen KollegInnen vom Notfallinterventionsteam der ÖBB, die aus dem gleichen beruflichen Umfeld kommen. Um eine lückenlose Betreuung zu ermöglichen, arbeitet das Notfallinterventionsteam der ÖBB sehr eng mit dem Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes zusammen.
Zurück ins Leben
Damit nach einem traumatischen Erlebnis, wie Suizid auf Schienen, das Leben von betroffenen Beschäftigten nicht aus der Bahn gerät, muss ihnen jegliche Hilfestellung gewährt werden. Dafür machen wir uns als Gewerkschaft stark.
Unsere Forderungen
- Freistellung statt Krankenstand und Entgeltfortzahlung (inkl. Nebengebühren)
- Rücktransport für Betroffene an ihren Wohnort bzw. ihre Dienststelle
- Psychologische Betreuung durch Notfallinterventionsteam
- Gesetzliche Anpassung im ASchG und im Eisenbahnrecht
- Betriebsvereinbarung
- Kriseninterventionsteam zur Akutbetreuung
Magazin Gesunde Arbeit 2/2019