Die Last mit dem Rücken
Von wegen Wissensgesellschaft: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten muss mit schweren Lasten hantieren oder nimmt ergonomisch ungünstige Arbeitshaltungen ein.
Muskel- und Skeletterkrankungen (MSE) sind die zweithäufigste Ursache für Arbeitsausfälle. 16,3 Tage dauert ein derartiger Krankenstand durchschnittlich. Nicht wenige arbeiten trotz (chronischer) Beschwerden weiter, und so stehen Erkrankungen des Bewegungsapparats auf der Liste der Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspensionen ganz oben. „Man vergisst leicht, dass es auch heute noch viele körperlich anstrengende Tätigkeiten beziehungsweise Berufe gibt, obwohl die Belastungen zum Teil sogar zugenommen haben“, erklärt Harald Bruckner, ArbeitnehmerInnenschutz-Experte der AK Wien. „Wir brauchen für diese Tätigkeiten klare gesetzliche Regelungen wie etwa bei der persönlichen Schutzausrüstung. Eine Schwerpunktaktion der Arbeitsinspektion, die überprüft, inwieweit die Evaluierungen der manuellen Lasthandhabung überhaupt stattfinden, würde zeigen, dass eine Verordnung längst überfällig ist.“ Derzeit gebe es zwar Leitmerkmalmethoden und Last-Handhabungs-Tabellen (LHT), die eine Evaluierung ermöglichen, tatsächlich aber kaum zum Einsatz kommen. Es gehe nicht an, dass sich in manchen Bereichen die Beschäftigten die Gesundheit ruinieren, den Job verlieren und mit einer niedrigeren Pension dafür noch bestraft werden. Für Entlastungen wie Hebehilfen und Ähnliches muss sowohl Geld als auch Zeit vorhanden sein.
Verordnung in der Schublade
Eine Verordnung zur manuellen Lasthandhabung war Ende der 1990er-Jahre schon fertig ausgearbeitet, ist aber mit dem Regierungswechsel in der Schublade verschwunden. „Dieser Entwurf müsste nur entsprechend dem Stand der Technik aktualisiert werden, aber die Wirtschaft wehrt sich massiv dagegen. Verhaltensorientierte Maßnahmen wie Rückenschulen können etwa auf dem Bau kein Ersatz für Lastenaufzüge und Kräne sein. „Die ‚wahren Leistungsträger‘ müssen endlich entlastet werden. Es ist längst überfällig, dass eine Verordnung mit klaren gesetzlichen Obergrenzen die ArbeitnehmerInnen schützt“, so Bruckner. Bis dato gibt es keine „gesetzlich“ festgelegten höchstzulässigen Lasten oder etwa Obergrenzen pro Arbeitstag.
Das ASchG formuliert eher allgemein präventiv. „Das ASchG enthält die essenziellen Grundsätze, außerdem gibt es noch die entsprechenden ÖNORMEN, Leitmerkmale und die allgemeine ArbeitnehmerInnenschutz-Verordnung. Für uns sind ausreichend relevante Beurteilungsgrundlagen vorhanden“, erklärt Josef Kerschhagl vom Zentral-Arbeitsinspektorat: „Uns ist vor allem wichtig, dass mehr Bewusstheit für manuelle Lasthandhabung entsteht und entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. In den meisten Fällen ist nicht die manuelle Last das Problem, sondern die ergonomisch ungünstige Körperhaltung dabei.“ Im Rahmen der EU-Kampagne „Pack’s leichter an“ 2007/2008 erhob die Arbeitsinspektion, dass die meisten Baufirmen zumindest den vorgeschriebenen Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan (SiGe-Plan) erstellen, wobei die Lasthandhabung darin nur selten vorkommt.
Die Evaluierung
Neben der Beurteilung von Unfallgefahren wird die Gesundheitsgefährdung durch manuelle Lasthandhabung mittels Leitmerkmalmethoden ermittelt. Diese erlauben die Einschätzung möglicher Folgen bei gesunden Beschäftigten. Vermindert belastbar sind Schwangere, Beschäftigte über 40 oder unter 21, Berufsneulinge sowie durch Erkrankungen eingeschränkte Personen. Entscheidend für die Risikoermittlung sind die individuelle Leistungsfähigkeit, Häufigkeit und Dauer der Belastung sowie die Art der Handhabung (Körperhaltung, Bewegungsablauf). Josef Kerschhagl: „Bei den Leitmerkmalmethoden wird es vermutlich noch heuer Adaptierungen bzw. Präzisierungen auf der Basis einer aktuellen deutschen Studie geben.“
Die wichtigsten Risikozonen beim Hantieren mit Lasten sind die Bandscheiben (v. a. im Bereich der Lendenwirbelsäule), der Schultergürtel und der Beckenboden. Quer durch alle Berufssparten zählen Rückenschmerzen und -schädigungen zu den häufigsten Belastungen für den Stütz- und Bewegungsapparat. Arbeitsbedingte Erkrankungen der oberen Gliedmaßen (z. B. Repetitive Strain Injury/RSI = Schädigungen durch wiederholte Belastungen) stellen die zweite große Gruppe.
Ursachen für Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE)
Die wichtigsten Ursachen für MSE (neben der Lasthandhabung):
- Arbeiten im Knien, Hocken und anderen Zwangshaltungen; eingeschränkte Bewegungsfreiheit
- Vibrationen – Handarmschwingungen (etwa durch Bohrer), Ganzkörperschwingungen (z. B. im Lkw oder im Gabelstapler auf holprigen Wegen) führen mit der Zeit zur Verschlechterung des allgemeinen Wohlbefindens, langsameren Reflexen sowie Schmerzen und eingeschränkter Leistungsfähigkeit.
- Sich ständig wiederholende Bewegungen (Fließband, Monteurarbeiten etc.)
- Langes Sitzen (KraftfahrerInnen, Bildschirmtätigkeit etc.) – ab 20 Minuten konzentrierter Tätigkeit bei einer Aufgabe können – abhängig von der Arbeitsplatzgestaltung – Beschwerden auftreten. Idealerweise verbringt man den Arbeitstag zu 50 Prozent sitzend, 25 Prozent stehend und den Rest in Bewegung.
Allgemein gilt: Ungünstige Bedingungen wie etwa Kälte verstärken die Belastungen für Gelenke und Muskeln. Stressbelastung erhöht das Risiko für Rückenschmerzen deutlich. Durch verbesserte Arbeitsbedingungen (mehr Entscheidungsfreiheit, weniger Stress, Zeitdruck und Risiken am Arbeitsplatz) könnten die Fälle von Rückenbeschwerden um 40 Prozent reduziert werden.
Tipps und Forschungsergebnisse
Im Präventionsbericht der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) finden sich zahlreiche Tipps und aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema Muskel- und Skeletterkrankungen.
- Bei Rückenschmerzen sollten Betroffene möglichst aktiv bleiben und sobald wie möglich ihre normalen Aktivitäten wiederaufnehmen.
- Wird die Arbeit (vorübergehend) anders gestaltet, dann bestehen gute Aussichten für die berufliche Wiedereingliederung, vorausgesetzt, es wird auf entsprechende Arbeitsschutzmaßnahmen geachtet.
- Eine Kombination aus optimaler medizinischer Behandlung, einem Rehabilitationsprogramm und Maßnahmen am Arbeitsplatz ist wirkungsvoller als die einzelnen Elemente für sich genommen.
- Nachweisliche Erfolge lassen sich auch durch Kräftigungstherapien, Rückenschulung und Verhaltenstraining erreichen.
- Die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit kann Muskel-Skelett-Erkrankungen verringern.
- Technische ergonomische Maßnahmen können die Belastung des Rückens und der oberen Gliedmaßen ohne Produktivitätsverlust verringern.
- Schulungen über richtige Arbeitsmethoden für die manuelle Handhabung von Lasten sind nur dann effektiv, wenn sie von anderen Maßnahmen unterstützt werden.
- Sportliche Betätigung kann wiederholtes Auftreten von Rückenschmerzen und Schmerzen im Nacken-Schulter-Bereich reduzieren. Um effektiv zu sein, sollten die Übungen intensiv sein und mindestens dreimal wöchentlich wiederholt werden.
Maßnahmen
15 Fallstudien aus ganz Europa und verschiedenen Wirtschaftsbereichen zeigten, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Risiken von Muskel-Skelett-Erkrankungen neben den Verbesserungen bezüglich Sicherheit und Arbeitszufriedenheit auch einen Rückgang der Krankenstände bei gleichzeitigem Produktivitätsanstieg bewirken. Für eine in jeder Hinsicht erfolgreiche Umsetzung sind allerdings einige Grundsätze zu beachten:
- Partizipatorisch: Grundvoraussetzung ist die Unterstützung durch die Geschäftsführung, damit geeignete Mittel für Verbesserungen des Arbeitsumfelds zur Verfügung gestellt werden. Aber auch die ArbeitnehmerInnen und ihre VertreterInnen müssen in den gesamten Prozess miteinbezogen werden.
- Multidisziplinär: Um Muskel-Skelett-Erkrankungen vorzubeugen, ist es erforderlich, verschiedene Arten von Maßnahmen zu kombinieren. Es ist unwahrscheinlich, dass einzelne Maßnahmen Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen. Daher ist die Zusammenarbeit von Personen mit Fachwissen in verschiedenen Bereichen (z. B. Ergonomie, Technik, Psychologie usw.) bei der Bewertung und Überwachung der Risiken am Arbeitsplatz und der Suche nach Lösungen unerlässlich.
- Gute praktische Lösungen sollten nicht 1:1 auf einen anderen Arbeitsplatz übertragen, sondern auf dessen spezifische Bedingungen zugeschnitten werden.
Das Cinderella-Modell
Es wurde Anfang der 1990er-Jahre entwickelt und erklärt, warum bei statischer Arbeit die Intensität der Muskelanspannung nicht unbedingt ausschlaggebend für Beschwerden ist. Denn unabhängig von der Schwere der körperlichen Arbeit werden bestimmte Muskelfasern zuerst aktiviert. Diese bleiben dann bis zur vollständigen Entspannung des Muskels aktiv (wie Aschenputtel/Cinderella, die immer als Erste aufstehen und als Letzte zu Bett gehen musste). Werden nicht genügend Kurzpausen eingelegt, dann kann es durch die Daueraktivität dieser motorischen Einheiten mit der Zeit zu einer Degeneration der Muskelfasern und damit zu Schmerzen kommen. Die Situation verschlimmert sich unter anderem dann weiter, wenn etwa durch Stress, schlechtes Arbeitsklima u. Ä. der Muskeltonus zusätzlich erhöht ist. Kurzpausen (auch in Form eines Tätigkeitswechsels) haben eine vorwiegend prophylaktische Funktion und sollten daher eingelegt werden, bevor Beschwerden einsetzen.
Magazin Gesunde Arbeit | Ausgabe 1/2015