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In neuem Glanz: Jetzt sechs Leitmerkmalmethoden verfügbar

Durch das Projekt „MEGAPHYS“ wurden die drei bekannten Leitmerkmalmethoden zur Evaluierung körperlicher Arbeitsbelastungen neu adaptiert und durch drei weitere ergänzt. Damit stehen aktualisierte und treffsichere Methoden im Kampf gegen Muskel-Skelett-Erkrankungen zur Verfügung. Jetzt heißt es nur noch richtig anpacken bei der Arbeitsplatzevaluierung!

Adobe Stock / jannoon028

Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) gehören weiterhin zu den häufigsten arbeitsbedingten Erkrankungen in Europa – Österreich miteingeschlossen. Trotz technischem Fortschritt in der Arbeitsgestaltung werden auch zukünftig die körperlichen Arbeitsbelastungen, nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels, eine Rolle spielen. Die Prävention von MSE ist mehr gefragt denn je. Auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse bei deren Bewertung und aufgrund anstehender Kampagnen rückt das Thema wieder stärker in den Fokus!

Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz entdecken und bewerten

Die Evaluierung – in Deutschland „Gefährdungsbeurteilung“ – von Belastungen am Arbeitsplatz bildet die Basis für die Prävention von Gesundheitsschäden. Durch die detaillierte Analyse und Bewertung von Tätigkeiten können Maßnahmen zur besseren Arbeitsgestaltung und der damit einhergehenden körperlichen Entlastung der ArbeitnehmerInnen entwickelt werden. In Deutschland gibt es seit vielen Jahren eine Tradition bei der wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Themas. Alles begann im Jahr 2001, als die erste „Leitmerkmalmethode“ zur Beurteilung von manuellem Heben, Tragen und Halten von Lasten von der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) herausgegeben wurde. 2002 und 2012 folgten zwei weitere Leitmerkmalmethoden zum manuellen Ziehen und Schieben von Lasten und zu manuellen Arbeitsprozessen.

Von der Arbeitswissenschaft auf die Anwenderebene

Nachdem seit 2013 die betriebliche Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen ein Schwerpunkt der Deutschen Gemeinsamen Arbeitsschutzstrategie (GDA) ist, wurde das umfangreiche Projekt „MEGAPHYS“ (Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz) durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) gestartet. Im Rahmen des Gemeinschaftsprojektes wurden die drei vorhandenen Leitmerkmalmethoden weiterentwickelt und drei weitere neue Leitmerkmalmethoden (LMM) herausgegeben. Insgesamt sind nun sechs Methoden zur Beurteilung von unterschiedlichen körperlichen Belastungsarten vorhanden, die für Präventivfachkräfte und ExpertInnen anderer Disziplinen eine wichtige Grundlage schaffen, um Gefahren durch körperliche Belastungen besser zu beurteilen. Allein die Vorstudie zur Erprobung der LMM umfasste 40 Unternehmen, mehr als 200 betriebliche AkteurInnen und ca. 600 Tätigkeitsbewertungen. Durch anschließende Modifizierung und Prüfung der Gütekriterien stehen nun arbeitswissenschaftlich gesichert sechs neu- und weiterentwickelte Leitmerkmalmethoden zur Verfügung, die zur Anwendung in der Praxis empfohlen werden.

Die neuen Leitmerkmalmethoden im Detail

Die neuen Leitmerkmalmethoden ermöglichen das Erkennen von Defiziten bei der Arbeitsgestaltung. Weiters geben sie Hinweise auf Maßnahmen, die das Risiko für negative gesundheitliche Auswirkungen verringern können. Sie zählen zu den Screening-Methoden, setzen aber eine gute Kenntnis der zu beurteilenden Arbeitsplätze voraus. Die neuen Methoden haben umfangreiche Prüfungen der Gütekriterien durchlaufen und können jetzt in der Praxis eingesetzt werden. Die sechs LMM unterteilt in folgende Belastungsarten:

  • LMM-HHT: Manuelles Heben, Halten und Tragen von Lasten
  • LMM-ZS: Manuelles Ziehen und Schieben von Lasten
  • LMM-MA: Manuelle Arbeitsprozesse
  • LMM-GK: Ganzkörperkräfte
  • LMM-KH: Körperzwangshaltung
  • LMM-KB: Körperfortbewegung

Auf www.baua.de stehen die Formblätter zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Erkenntnisse auf der betrieblichen Ebene noch weit entfernt

Wissenschaftliche Grundlagen gibt es seit 2001 aufgrund der LMM – gleichzeitig ist seit Jahrzehnten das Dauerproblem Muskel- und Skeletterkrankungen vorhanden! Wie passt das zusammen bzw. woran hakt es hier? In der Beratung und in Gesprächen mit BetriebsrätInnen zeigt sich schnell, dass konkrete Erkrankungen immer wieder als individuelles Problem der ArbeitnehmerInnen abgetan werden. Das Abschieben auf die persönliche Ebene der ArbeitnehmerInnen (und deren Sport- oder Freizeitverhalten) verlagert das Thema raus aus dem Betrieb. Die Diskussion um eine verbesserte, ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen oder Arbeitsabläufen wird im Regelfall kaum geführt. Es sei denn, ein Betriebsrat oder ein/e engagierte/r ArbeitsmedizinerIn nimmt sich des Themas an. Im Regelfall wird versucht, mit dem Totschlagargument der Kosten eines eventuell nötigen Arbeitsplatzumbaus Druck zu erzeugen. Dabei sollte am Anfang eine fachgerechte Bewertung der realen, körperlichen Belastungen stehen. Die neuen LMM können die unterschiedlichen Belastungsarten im Zuge der Arbeitsplatzevaluierung jetzt detaillierter erfassen und bewerten. Präventivfachkräfte und andere ExpertInnen haben damit ein zeitgemäßes Instrument zur Hand, um Fehlbelastungen zu erkennen, zu vermeiden oder so weit wie möglich zu minimieren. Nun muss es nur noch auf der betrieblichen Ebene angewandt werden.

Gesetzliche Verordnung in Österreich notwendig

Die neuen Leitmerkmalmethoden werden auf ExpertInnenebene für einen neuen Impuls sorgen, wie auch die kommende europäische Kampagne zu MSE. Nationale Kampagnen von Unfallversicherungsträgern und Projekte in Vorzeigebetrieben werden für einen gewissen Rückenwind sorgen. Erfahrungen und Umfragen zeigen aber, dass es neben Bewusstseinsbildung auch gesetzliche Mindestvorgaben braucht, damit Prävention großflächig auf betrieblicher Ebene gelebt wird. In Deutschland regelt seit Langem eine Verordnung die betrieblichen Pflichten bei körperlich belastenden Arbeiten. In Österreich fehlt diese jedoch weiterhin. Arbeiterkammern und Gewerkschaften fordern diese Verordnung ein – damit die Prävention in diesem Bereich endlich voranschreitet.

Magazin Gesunde Arbeit 2/2021