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Arbeit als Droge

Der gesellschaftliche Druck, immer mehr, immer schneller und immer perfekter zu arbeiten, bleibt oft nicht ohne Folgen. Immer mehr Menschen sind heute von Arbeitssucht betroffen. Doch was bedeutet das genau, und welche Folgen hat dies auf die Betroffenen und ihr Umfeld?

Adobe Stock / SFIO CRACHO

Draußen ist es bereits dunkel. Nach und nach geht in immer mehr Räumen das Licht aus. Was wie eine Szene aus einem Horrorfilm anmutet, ist eigentlich etwas sehr Alltägliches: lediglich ein Bürogebäude, aus dem sich langsam auch die letzten ArbeitnehmerInnen in den Feierabend verabschieden. Alle bis auf einen. Sein Fenster bleibt die ganze Nacht über beleuchtet. Denn er fährt gar nicht erst nach Hause. Und das nicht nur heute, sondern an den meisten Tagen. Die Rede ist von einem Arbeitnehmer, der als besonders schwerwiegender Fall von Arbeitssucht bezeichnet werden kann. Nicht immer nimmt die Arbeitssucht solche Ausmaße wie in diesem Praxisbeispiel an. Aber in immer mehr Fällen geht das Arbeiten (teilweise weit) über ein gesundes Ausmaß an Bemühungen und Einsatz hinaus.

Lange Arbeitstage, unzählige Überstunden, stressdurchflutete Meeting-Marathons – bei vielen Menschen läuten hier keine Alarmglocken. Doch Arbeit kann eine Droge sein. Das größte Problem dabei: Wir orientieren uns an Leistung, bewundern Personen, die Großes erreichen, und die Vorstellung, für den Traum von Erfolg alles zu geben, wird fast schon romantisiert. So ist auch Workaholic nicht unbedingt ein negativer Begriff, sondern gilt gesellschaftlich vielmehr als erwünschtes Verhalten, mit dem nicht selten Anerkennung, Aufstiegschancen und Gehaltserhöhungen einhergehen. „Oft wird Arbeitssucht gar nicht als solche gewertet“, bestätigt Mag.a Lisa Wessely, klinische und Gesundheitspsychologin, Arbeitspsychologin und Leiterin der Suchtprävention und Früherkennung des Vereins Dialog, und macht auf einen wesentlichen Unterschied zur substanzgebundenen Sucht aufmerksam: „Drogen – egal welcher Art – muss man sich besorgen, aber arbeiten tut letztendlich jeder.“

Hart zu arbeiten ist sozial erwünscht. Oft wird das praktiziert, bis der Punkt kommt, an dem die Situation kippt, und dann verschwimmen die Grenzen. „Dass Arbeiten pathologisch werden kann, ist für viele kaum vorstellbar. Derzeit gibt es für Arbeitssucht noch keine einheitliche, international anerkannte Definition“, so das Institut Suchtprävention pro mente OÖ in Linz. Wann spricht man also eigentlich von Arbeitssucht? Für Wessely ist eines klar: „Es geht nicht darum zu messen, wie viele Stunden jemand pro Tag oder pro Woche arbeitet. Viel wichtiger sind die folgenden beiden Fragen: Was passiert, wenn jemand nicht mehr arbeiten kann? Und hat die Person – abgesehen von der Arbeit – andere Dinge in ihrem Leben, die ihr wichtig sind?“

Adobe Stock / SFIO CRACHO

Bernd K. (Name von der Redaktion geändert) weiß, was es bedeutet, arbeitssüchtig zu sein: „Ich glaube, so richtig hat bei mir alles mit der Scheidung angefangen. Plötzlich war ich allein zu Hause. Niemand hat nach der Arbeit mehr auf mich gewartet. Ich wollte einfach nicht in diese leere Wohnung zurück. Und so sind meine Arbeitstage immer länger geworden. Mal eine Überstunde hier, mal ein zusätzliches Projekt da, und so sind langsam aus 40 Wochenstunden 50 geworden und zu Spitzenzeiten sogar fast 65 bis 70“, erzählt Bernd. „Auslöser für Arbeitssucht sind häufig Krisenmomente“, weiß das Institut Suchtprävention. „Für eine gewisse Zeit kann die Ablenkung durch Arbeit durchaus eine Stütze sein, mit dem Schicksalsschlag umzugehen. Bleibt dieses Verhalten jedoch langfristig bestehen bzw. wird Arbeit für einen Menschen zur einzigen Quelle von Lebenssinn und Selbstwert, steigt das Risiko, die Kontrolle zu verlieren.“ Wenn man in einer solchen Situation auf Arbeitsbedingungen trifft, die eine Arbeitssucht fördern und kurzfristig damit auch Erfolge einhergehen, wird immer weitergemacht.

Arbeits- und Organisationspsychologin Mag.Johanna Klösch sieht hier auch eine Verbindung zu modernen Managementkonzepten: „Weg von konkreten Vorgaben und Anweisungen durch Vorgesetzte – was zählt, sind das Ergebnis und der Erfolg der Beschäftigten.“ Durch die Ausweitung des Verantwortungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielraums der ArbeitnehmerInnen mag es zwar von außen so aussehen, als erhielten die Beschäftigten mehr Freiheit und Flexibilität. Aber intern entsteht ein Wettbewerb: „Der Grad der Zielerreichung wird laufend verglichen – innerbetrieblicher Druck und Konkurrenz entstehen. Zielvorgaben werden kontinuierlich erhöht. Arbeitsverdichtung, Beschleunigung und Entgrenzung schleichen sich ein. Nicht bewältigte Arbeit wird zunehmend in der Freizeit erledigt, um die Vorgaben erreichen zu können“, so Klösch.

„Bei uns in der Firma ist es gang und gäbe, dass Leute Arbeit mit nach Hause nehmen, auch ins Wochenende. Viele sind auf ihren Firmenhandys auch nach Dienstschluss oder im Urlaub erreichbar. Das ist normal und wird nicht hinterfragt. Ich habe sehr lange nicht mitbekommen, dass ich eigentlich gar nicht mehr richtig abschalten kann.“ Bernd stellte hier keine Ausnahme im Betrieb dar: „Meine Gedanken waren so gut wie immer bei der Arbeit. In der Früh war der Griff zum Diensthandy das Erste, das ich gemacht habe. Auch nachts bin ich im Bett gelegen und habe vor dem Einschlafen noch Mails gelesen oder Termine vorgeplant, bis mir die Augen zugefallen sind. Die Arbeit war einfach ständig bei mir – in der U-Bahn, beim Einkaufen, sogar wenn ich Freunde getroffen habe. Bis ich die dann irgendwann weniger oft getroffen habe. Am Ende sogar gar nicht mehr“, erinnert er sich.

Diese zwei Fälle sind längst keine Ausnahme. Immer mehr Menschen sind von Arbeitssucht betroffen und finden sich in einem System wieder, in dem die vorgegebenen Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass Arbeitszeit und Freizeit miteinander verschmelzen. Und darunter leiden vor allem die Gesundheit der Betroffenen sowie ihr soziales Umfeld.